Frieda im Sonntagskleid
Ein Gemälde von Lovis Corinth (1858 Tapiau /Ostpreußen – 1925 Zandvoort) ??
Das Mädchen im hellen Kleid und roséfarbener Schleife im Haar hat den Blick direkt auf den Betrachter gerichtet. Es sind große blaue Augen, die selbstbewußt schauen, aber zugleich nicht wirklich zu fokussieren scheinen. „Wer denken Sie, hat das Bild gemalt?“, lautete eine der ersten Fragen des Besitzers, nachdem er uns ein Foto geschickt hatte. Es würde in die Zeit der Klassischen Moderne gehören, das war uns sofort klar. Für diese Zuordnung brauchte es die mit dicker Farbe ungelenk aufgetragene Datierung unten rechts „1903“ nicht. Unkonventionell ist die Behandlung des Kleides, breite Pinselstriche akzentuieren Stoff und Spitzen; die rote Kette – ein flüchtiger Pinselzug; der Hintergrund mit groben Schwüngen in undefinierbaren Braun-Grautönen auf Raumeindrücke verzichtend. Das Mädchengesicht hingegen ist feinteiliger mit kurzen pastosen Pinselstrichen naturgetreu herausgearbeitet. Beim Betrachten des Originals war es ganz unzweifelhaft, dass wir es mit einem Werk des Impressionismus zu tun hatten. Die Überlieferung zu diesem Gemälde lautete zusammengefasst: Frieda Baarck, die Tochter des Hoteliers „Hotel zur Post“ in Brunshaupten (später Kühlungsborn), wurde während eines Studienaufenthalts von Lovis Corinth portraitiert, da ihm die finanziellen Mittel fehlten, um seine Rechnung zu begleichen. Der Vorbesitzer hatte es von seiner Großmutter, eben jener Frieda Baarck geerbt, die zum damaligen Zeitpunkt 13 Jahre alt gewesen war.
Unter stilkritischen Gesichtspunkten spricht einiges für die Zuschreibung und einiges leider auch dagegen. Die freie Handschrift, die mit wenigen Strichen die Duftigkeit des Musselinkleides visualisiert, weicht von der kleinteiligen impressionistischen Ausarbeitung von Hals und Gesicht ab. Die Bezeichnung mit Bleistift auf der Rückseite der Leinwand, weist vielleicht in die richtige Richtung. In Schreibschrift ist dort „Frl. Berend“ zu lesen. Dabei wird es sich um Charlotte Berend (1880 Berlin – 1967 New York), seit 1901 Schülerin und Muse des Künstlers und spätere Ehefrau von Lovis Corinth handeln.
Unsere Recherche
Um einen schriftlichen Beleg für die Bildentstehung zu finden, recherchierten wir im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg, wo der schriftliche Nachlass des Künstlers verwahrt wird. Dass sich Corinth zu Beginn des 20. Jhrds. mehrmals an der Ostseeküste aufgehalten hat, ist bereits von Roland Prügel in seiner unveröffentlichten Forschungsarbeit „Lovis Corinth an der Ostseeküste – eine Dokumentation“, nachgewiesen worden. Bezüglich des gemeinsamen Aufenthalts im Sommer 1903 weist Prügel auf einen Brief von Corinth an seine Geliebte vom 8. Aug. 1903 hin, aus dem hervorgeht, dass er bereits vor ihr Brunshaupten verließ, um ins Berliner Atelier zurückzukehren: „Liebes Petermannchen, eben bin ich zu Hause angekommen und habe unser Saunest Brunshaupten total vergessen, sollte noch was von mir nötig sein, schreibe mir …“ (zit. n. R. Prügel, s. o.). Wir wiederum fanden im Archiv sowohl einen Brief von Corinth an Charlotte Berend aus dem Frühjahr 1903, in dem er sich vergewissert, dass es doch wohl bei ihrem gemeinsamen Aufenthalt in Brunshaupten bliebe und außerdem ein Foto des Künstlers aus Brunshaupten, rücks. datiert 1903. Darüberhinaus gibt es mehrere Gemälde, die nachweislich dort in diesem Jahr entstanden sind. Es darf also als gesichert gelten, dass das Paar seine Sommerfrische in Brunshaupten verbrachte. Leider fanden wir keine konkreten Hinweise darauf, wo sie logiert haben. Folgt man der Überlieferung des ehemaligen Besitzers, dürfte angenommen werden, dass Lovis Corinth wegen eines finanziellen Engpasses auf das Angebot der Gastgeber einging, einen Teil seiner Schulden mit einem Portrait von der Tochter zu begleichen und das vorliegende Gemälde zumindest anlegte. Doch noch vor der Fertigstellung verließ Corinth Brunshaupten aufgrund des schlechten Wetters (s. o.) während Charlotte Berend noch blieb. Wenn sie das Gemälde ausarbeitete und rückseitig in der 3. Person signierte, denn die Handschrift ist authentisch, wären die unterschiedlichen Malweisen erklärbar. Zieht man Vergleiche mit anderen Kinderportraits von Berend aus diesen Jahren heran, man betrachte z.B. die Ausführung des Bildnisses „Henny“ (Henriette Seckbach) von 1905, spricht vieles für ihre Autorenschaft bzw. für eine pragmatische „Teamarbeit“. Eine eingehende Stilanalyse zu den Portraitbildern der beiden Künstler könnte weitere Klarheit bringen.
Für uns war es spannende Recherchearbeit, die wir für dieses schöne und eindringliche Gemälde gerne übernommen haben. Möglicherweise gibt es noch eine Notiz in den Tagebuchaufzeichnungen von Charlotte Berend-Corinth, die das Rätsel lösen könnte. – Ein Versuch wäre es wert!